„Geh aus, mein Herz, und suche Freud…“
Mit Liedern durch die sing-lose Corona-Zeit
Eigentlich hätte jetzt der 11. Nordkirchenfachtag Seniorenarbeit stattgefunden. In diesem Jahr wollten wir das Thema Musik mit Referat und Workshops entfalten. Auch diese Veranstaltung ist auf 2021 verschoben. Als kleinen „Ersatz“ für die ausgefallene Veranstaltung und als eine Alternative zum Singen, das in Corona-Zeiten zu gefährlich ist, ein Impuls zu einem der bekanntesten Kirchenlieder „Geh aus, mein Herz, uns suche Freud…".
Eigentlich ist Singen gesund – nur jetzt nicht in Corona-Zeiten
Singen ist gesund – das ist schon lange wissenschaftlich belegt. Singen stärkt das Immunsystem. Singen bringt das Herz-Kreislaufsystem in Schwung. Singen steigert die Sauerstoffsättigung im Blut. Singen verbessert unsere Haltung. Singen aktiviert unser Gehirn. Singen hebt die Stimmung. Singen macht glücklich. Singen hat positive Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem. Wer singt, lebt statistisch gesehen sogar länger.
Wie wohltuend, befreiend, lebenserweckend, verbindend und stimmungsaufhellend Singen auch in extrem schwierigen Situationen ist, führte uns das Balkonsingen der Italiener zu Beginn der Corona-Krise vor Augen. Und wie ansteckend war das. Schnell machten wir es ihnen nach.
Nun aber ist größte Vorsicht geboten. Die Wissenschaft untersucht mit Hochdruck, welche Rolle Aerosole bei der Verbreitung des Coronavirus spielen. Anders als die Tröpfchen, die von der Schwerkraft zu Boden gezogen werden, halten sich diese feinsten Schwebeteilchen anscheinend stundenlang in der Luft. Und da beim Singen tief eingeatmet wird, gelangt der Virus tiefer in die Lunge. Bis Studien herausgefunden haben, ob oder ob nicht Aerosole Überträger des Virus sind, schweigt das gemeinsame Singen.
Wie lässt sich die Zeit überbrücken
Vielen, für die das gemeinsame Singen ein wichtiger Teil des Lebens ist, fehlt jetzt sehr viel und die, die gerne im Gottesdienst singen, vermissen schmerzlich das Singen. Was können wir aus dieser Situation machen, wie können wir sie – wie Vieles andere – jetzt anders gestalten? Einige singen mit wenigen anderen zusammen, mit großem Abstand und für kurze Zeit draußen im Freien. Oder nur mal so vor sich hin summen. Ich singe gerne alleine in der Wohnung, auf dem Rad, im Auto oder auf einem Spazierweg.
Oder – und das wäre mein Vorschlag auch an dieser Stelle – man betrachtet und bewegt einfach einmal nur den Text eines Liedes, eines Kirchenliedes. Es könnte sein, dass dieser, auch wenn er vielleicht hunderte Jahre alt ist, gar nicht weit weg ist von dem, was wir derzeit durchleben. Und so möchte ich Sie einladen und mitnehmen, wenn Sie mögen, mit mir ein wenig durch den Text des Liedes „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ zu gehen.
Ein kleiner Spazierweg durch den Liedtext „Geh aus, mein Herz, und suche Freud…“ (Evangelisches Gesangbuch 503)
Wir sprechen oft von den „Paul-Gerhardt-Liedern“ – doch von Paul Gerhardt stammt nur der Text. „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ ist ein Gedicht, das aus 15 Strophen besteht. Es stammt aus dem Jahr 1653. Zehn Jahre später bekam das Gedicht seine erste Melodie, doch sie war nicht eingängig genug. 150 Jahre lang waren dann Text und vorhandene Melodie auf der Suche nach der „wahren“ Melodie, bis sie Anfang des 19. Jahrhunderts auf ein Frühlingslied von August Harder stießen, das anscheinend besser zu passen schien. Damit der Text mit dieser anderen Musikvorlage aufging, wiederholt man seitdem die letzte Zeile jedes Verses quasi wie ein Echo. Die Singweise mit ihrem unbefangen, fröhlichen Klang hat sich schnell durchgesetzt.
Paul Gerhard beschreibt die Natur in ihrem sommerlichen Höhepunkt. Er sammelt Bilder der Natur, die ihm bedeutsam sind, Eindrücke, die sein Herz erfreuen und Leben wecken. Er lenkt seinen Blick nach außen. Er besingt Blumen, Bäume, Vögel, Tiere, Bäche und den Weizen. Er hat einen Blick für das, was ihn aufatmen und neue Kraft tanken lässt.
Was lässt mich, was lässt Sie in dieser Corona-Zeit aufatmen, wodurch sammeln Sie neue Kräfte?
„Geh aus, mein Herz und suche Freud!“ – für uns ein frohmachendes Sommerlied in sonnigen Zeiten, doch Paul Gerhardt hat den Text in schweren und dunklen Zeiten geschrieben. Vielleicht war es ein künstlerisches Sich-Aubäumen gegen Krieg und Leid. Er war elf Jahre alt, als der 30-jährige Krieg ausbrach. Er hat erlebt, wie Städte zerstört wurden, das Land verwüstet lag und viele Menschen umgekommen sind, er hatte die Spuren, die der Krieg hinterlassen hat, äußerlich, aber auch in den Seelen der Menschen, vor Augen. In der eigenen Familie erlebte er viele Schicksalsschläge.
„Geh aus, mein Herz“ – er schickt sein Herz aus, trotz allem, was er erlebt hat, trotz allem, was er gesehen hat und sieht. „Schau an“ – er übt sich, bewusst wahrzunehmen. „Und siehe!“ – ein Aufruf, der immer dort steht, wo Gott uns auf etwas hinweisen will, wo wir hinschauen und aufmerken sollen.
Auch wir sind in schwierigem Fahrwasser unterwegs. Viele gehen seit Beginn der Corona-Zeit verstärkt spazieren. Auch für uns kann es jetzt eine gute Übung sein, immer wieder unser Herz zum Schauen auszuschicken, was wir an Schönem jetzt inmitten aller Einschränkungen und eines „unnormalen“ Lebens doch entdecken können.
Paul Gerhardt braucht 7 Strophen, um sich alles genau anzuschauen, was Gott geschaffen hat. Die verdichteten Bilder wecken in ihm Assoziationen und berühren seinen Glauben. Er findet zur Freude und zu Gott. Er wird wieder froh. Ihm geht das Herz auf – es fließt über: „Ich selber kann und mag nicht ruhn, des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinne; ich singe mit, wenn alles singt, und lasse, was dem Höchsten klingt, aus meinem Herzen rinnen, aus meinem Herzen rinnen.“ (Vers 8)
Wo geht mir derzeit das Herz auf? Was berührt meinen Glauben? Welche existenziellen Fragen, die nach ethischen und theologischen Antworten suchen, wurden durch die Krise bei mir, in unserem Land, auf der ganzen Welt angestoßen?
Paul Gerhardt hat wohl erkannt, dass alles Leben Geschenk ist und unverfügbar ist. Deshalb wohl mündet sein Text in den letzten Strophen in eine Art Bittgebet: Hilf – segne – gib – mach – lass – verleihe.
Was bringe ich derzeit im Gebet vor Gott, wo mir schmerzlich bewusst wird, wie wenig man das Leben in der Hand hat? Mache ich mich auf zu ihm? Kann ich mich ihm – wie die Jahreslosung sagt – mit meinem Glauben und Unglauben, oder anders formuliert – mit meiner Angst und meinem Vertrauen – anvertrauen?
„Geh aus, mein Herz…“ - eine Betrachtung des blühenden Lebens mit den suchenden Augen des Herzens, dem sehnsuchtsvollen Blick in den ewigen Garten Gottes und der Bitte nach einem guten Leben in dieser Welt.
„Geh aus, mein Herz…“ das ist eine Ermutigung für uns jetzt. Das Herz ausschicken, wenn die Möglichkeiten eingeschränkt sind. Das Herz ausschicken inmitten unserer Sorgen, damit der Blick sich wieder weiten kann. Das Herz ausschicken, um irgendwo einen Hoffnungsschimmer zu erhaschen. Gelingt mir das?
Dieses Gedicht, dieses Lied ist wie eine Sehschule – nicht nur im Sommer, nicht nur, wenn die Welt in Ordnung ist und wir es aus vollem Herz laut singen mögen, sondern auch in Jahreszeiten des Lebens, die herausfordernd oder trübe sind, in Zeiten, in denen uns nicht so leicht ein Lied über die Lippen kommt oder – wie jetzt – in sing-losen Zeiten.
Und freuen wir uns, wenn wir irgendwann dann wieder in den Chören und Gottesdiensten oder am Nordkirchenfachtag am 9.6.2021 gemeinsam aus vollem Herzen miteinander singen werden: "Geh aus mein Herz und suche Freud...". So Gott will... Ich freue mich sehr darauf!!!
Petra Müller, Fachstelle Ältere der Nordkirche