Bericht und Vorträge des digitalen Fachtages, der am 31. August 2023 stattgefunden hat
Die Präsentationen stehen am Ende des Berichtes zum Download bereit
„Raum geben?! – Babyboomer als Chance für Gemeindeentwicklung“ – unter diesem Titel fand am 31.08.2023 ein digitaler Fachtag statt, der unter Mitwirkung der „Ökumenische Fachkonferenz für die Arbeit mit Älteren in den norddeutschen Kirchen“ konzipiert und umgesetzt wurde. Fast 70 Teilnehmende aus ganz Deutschland und der Schweiz nahmen an der Veranstaltung teil.
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker von der Fakultät für Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayrischen Technischen Hochschule in Regensburg und Cornelia Coenen-Marx (Pastorin, Autorin, Coach, Geschäftsführerin der Agentur „Seele und Sorge – Impulse, Workshops, Beratung“) nahmen die Gruppe der Babyboomer aus unterschiedlichen Perspektiven unter die Lupe.
Schroll-Decker stiegt damit ein, dass sie die Babyboomer auch als „Generation der vielen“ (1955-1965 +- Jahre) bezeichnete. Blicke man heute auf diese Gruppe, so schaue man auf einen „Silbersee“. Sie zeigte auf, wie verschiedene Einflüsse der letzten 50 Lebensjahre eine durchaus heterogene Generation hervorgebracht haben und betonte, dass Unterschiede innerhalb einer bestimmten Generation durchaus normal seien. Dass ältere Menschen nach dem Eintritt in die nachberufliche Lebensphase zunächst einmal Ruhe haben wollten und der „Ruhestandeffekt“ dazu führe, dass Babyboomer ihre Expertise und Zeit nicht sofort in freiwilliges Engagement geben würden, sei ebenfalls ganz üblich. Doch gelang es ihr in ihrem Vortrag für je unterschiedlich geprägte Babyboomertypen Anreize auszuweisen, die es für Babyboomer interessant machen könnten, sich einzubringen und zu engagieren. Wichtig hierbei: Erst einmal schauen, mit welchen Babyboomern habe ich eigentlich zu tun? Schroll-Decker gab darüber hinaus zu bedenken, dass Babyboomer keine gegebene Verfügungsmasse seien, da es in unserer Gesellschaft viele Alternativen für Engagement gebe. Kirche müsse sich hier auf die Wünsche der Babyboomer einlassen, so ihr Fazit.
Cornelia Coenen-Marx schloss daran an als sie mit der These einstieg, dass wenn Kirche kleiner und von den Mitgliedern her älter werde, wir offen bleiben müssen. Sie hob hervor, dass Altern uns alle angehe, doch dass dies ihrer Erfahrung nach leider noch immer nicht angekommen sei. Diskriminierung von älteren Menschen sei noch immer verbreitet: „Ältere werden solange nicht diskriminiert, wie sie nicht als Ältere gelesen werden.“ – dabei gehe es oft gar nicht ums Altern, sondern um Bildung, Wohlstand, Herkunft, Gesundheit oder Gender. Coenen-Marx wies besonders auf die zum Teil schweren Lebensbedingungen im Alter hin: Frauen haben seltener einen Führerschein und sind seltener mobil für ein entsprechendes Engagement, und ein großer Anteil Älterer habe ein relativ geringes Einkommen, was Teilhabe für ein Engagement ebenfalls erschweren kann. Zu beachten sei auch, dass der Anteil privat geleisteter Sorgetätigkeiten wächst und diese Zeit für anderes Engagement fehlt. Sie berichtete, dass jeden Monat 80.000 Babyboomer in Rente gehen und 2030 ein Viertel der Bevölkerung 65 Jahre und älter sein wird. So prognostiziert Coenen-Marx, dass Kirchenmitgliederzahlen verstärkt aufgrund demografischer Entwicklungen sinken werden und das Durchschnittsalter in Kirchengemeinden ganz natürlich ansteigen wird. Wie schon Schroll-Decker zuvor, stellte sie in ihrem Beitrag heraus, dass Babyboomer nicht auf Kirche angewiesen seien. Doch mit dem Geben von Freiheiten für Selbstorganisation, gemeinschaftlichem Essen oder generationenübergreifenden Themen wie Gärtnern, Kochen, Handarbeit und Werkeln, Musik, Klima oder Behinderungen könne Kirche sich für die neuen Alten öffnen und ein neues „Wir“ entdecken.
„Ich habe jetzt Zeit. Ich würde gern …“
Im weiteren Verlauf der Veranstaltung zeigten Berichte aus drei Praxisbeispielen auf, welche Themen andernorts von Babyboomern für engagementwürdig befunden und gut angenommen werden.
Diakon Hans-Peter Funhoff von der Ev. Seniorenbildung Bad Harzburg berichtete als erster von seiner Arbeit. Er beschrieb, wie sich seit 2007 nach und nach immer mehr Interessierte fanden, die beim Samstagspilgern (einmal im Monat) oder bei der Pilgerwoche (7-8 Tage) mitmachten. Die Gruppenerfahrung und Gemeinschaft sowie die gelebte Spiritualität werde gerade von Menschen aus der Gruppe der Babyboomer stark nachgefragt: „Ich habe jetzt Zeit. Ich würde gern mitlaufen!“
Anneliese Heymann aus der Pfarreiengemeinschaft Freren im Bistum Osnabrück erzählte davon, wie sie 2016 eine neue Steuerungsgruppe gründeten. Menschen um die 60 Jahre alt mit verschiedenen Berufen wurden persönlich angesprochen für ein zeitlich begrenztes Engagement auf Augenhöhe, passend zu den eigenen Kompetenzen. Nach einer aktivierenden Befragung wurde – ohne in Konkurrenz zu bestehenden Gruppen zu treten – Neues entwickelt und in ein Jahresprogramm überführt. Darin werden Themen wie Begegnung, Spiritualität, Handwerk, Soziales und Bildung abgedeckt. Sie hob den Wert von Öffentlichkeitsarbeit mit einem hohen Wiedererkennungswert, das Weglassen des Begriffs „Senioren“ sowie die Arbeit im Netzwerk mit vielen Partner*innen hervor.
Heike Dirksmeyer vom Mehrgenerationenhaus Ibbenbüren und Karin Schoo aus dem Kirchspiel Emsbüren berichten je von ihren Rikscha-Projekten. Hier werden erfolgreich viele Ehrenamtlich gewonnen. Interessiert, die sich zu Piloten ausbilden lassen erhalten u.a. Schulungen und Fahrtraining, um dann ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen mit verschiedenen Rikscha-Fahrzeugen zu transportieren und ihnen damit eine bessere Mobilität und stärkere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Im Anschluss an diese Praxisbeiträge wurden alle Veranstaltungsteilnehmenden in 12 Kleingruppen geschickt. Auf Basis des bisher Gehörten diskutieren und entwickelten die Gruppen Strategiebausteine für ein zukunftsfähiges Konzept, mit dem Babyboomer sich angesprochen fühlen, in unseren Kirchen zu wirken und sie lebendig zu ergänzen. Es wurden auch Ideen gesammelt, wie diese Strategiebausteine ganz praktisch umgesetzt werden könnten.
Am Ende des Fachtags resümierte Schroll-Decker, dass Kirche bedenken möge, dass sie nur ein Akteur in der Kommune sei und Vernetzung mehr denn je an Bedeutung gewinne. Sie rief dazu auf, die Sehnsucht in anderen zu wecken, sich zu betätigen.
Coenen-Marx stellte in ihrem Abschlussbeitrag den Mut in den Fokus. Mut für Veränderungen, Mut aus eigenen Erfahrungen Gleichgesinnte zu suchen und Mut voneinander zu lernen, indem wir uns gegenseitig besuchen, zusammen überraschen lassen und Best Practice teilen.
Anita Christians-Albrecht von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Altern (EAfA) schloss damit, dass obgleich man häufig zu hören bekäme „Wir brauchen euch Alten nicht. Lieber die Jungen!“, habe Kirche die große Chance mit den Älteren zu wachsen und sich zu entwickeln.
Veranstaltende
- Arbeitsfeld Alternde Gesellschaft und Gemeindepraxis, Haus kirchlicher Dienste, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers
- Altenseelsorge - Zentrum für Seelsorge und Beratung, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers
Unter freundlicher Mitwirkung von
- Fachstelle Ältere, Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland im Hauptbereich Generationen und Geschlechter
- Fachstelle Alter, Bremische Evangelische Kirche
- Seniorenpastoral Bistum Osnabrück
- Katholische Kirche Nord-West-Deutschland