Strategien gegen Einsamkeit
Anne-Dorle Hoffgaard und Kristina Tesch führen ein Gespräch mit Petra Müller
Das Interview ist erschienen in der Evangelischen Zeitung Nr. 32, 6. August 2023
Kontakt- und Teilhabemöglichkeiten können gerade im Alter gegen das Alleinsein helfen. Einsamkeit ist für viele Menschen ein Problem. Inzwischen darf aber offen darüber gesprochen werden, und es gibt Strategien gegen das Alleinsein.
Seit Kurzem gibt es im Nachbarbundesland Mecklenburg-Vorpommern einen Runden Tisch, der Strategien gegen Einsamkeit im Alter entwickeln soll. Aber nicht nur dort ist Einsakeit ein Thema. Anne-Dorle Hoffgaard und Kirstina Tesch haben mit Petra Müller, Referentin in der Fachstelle Ältere der Nordkirche, über Kontakt- und Teilhabemöglichkeiten gesprochen.
Welche Maßnahmen gegen Einsamkeit im Alter halten Sie für sinnvoll?
Petra Müller: Wichtig sind Kontakt- und Teilhabemöglichkeiten vor Ort. Wie wirksam das ist, konnten wir in Aarhus erleben. Diese dänische Stadt entwickelte schon vor 15 Jahren ein Konzept gegen Einsamkeit, das auf Prävention setzt, den Menschen in den Mittelpunkt stellt und die Selbstwirksamkeit fördert. In Aarhus gibt es 38 Begegnungszentren, die zahlreiche Möglichkeiten für Angebote und selbstorganisierte Treffen bieten. Aber auch digitale Plattformen sind sinnvoll zur Kontaktaufnahme, Vernetzung und Information. Um dafür "fit" zu sein, sollte die digitale Kompetenz gefördert werden, etwa durch Schulungskurse für den Umgang mit Smartphone und Internet.
Was können Kirche und Diakonie tun?
Petra Müller: Sie können niedrigschwellige Begegnungen ermöglichen, Orte schaffen, wo man sich unverbindlich trifft, einen Kaffee trinkt und miteinander klönen kann. Alte, alleinstehende Menschen finden oft, dass es sich nicht lohnt, für sich alleine zu kochen. Gemeindehäuser mit geräumigen Küchen könnten gelegentlich einen Mittagstisch anbieten, bei dem sich auch Ehrenamtliche engagieren. Da immer mehr Menschen bei sich zu Hause alt werden, müssen neue Konzepte für die aufsuchende Arbeit entwickelt werden. Mancherorts gibt es bereits Seelsorgeausbildungen für Ehrenamtliche, die dann mit gutem Handwerkszeug alte Menschen besuchen. Auch der Hauptbereich Generationen und Geschlechter der Nordkirche greift die Thematik auf. Am 30. Januar 2024 wird es eine digitale Fachtagung unter dem Titel „einsamSein“ geben.
Welches Umdenken in der Gesellschaft halten Sie zum Thema "Einsamkeit" für erforderlich?
Petra Müller: Durch Corona ist das Thema "salonfähig" geworden. Viele trauten sich zu erzählen, wie sehr sie unter den Kontaktbeschränkungen leiden. Deutlich wurde, dass Einsamkeit in allen Lebensaltern auftreten kann, wenn auch in einem verstärkten Maß im hohen Alter. Das Bundesfamilienministerium entwickelt eine Strategie gegen Einsamkeit. Seit 2021 gibt es das Kompetenznetz Einsamkeit. Das Thema ist in der Gesellschaft angekommen - und das ist gut so. Ein Umdenken könnte aber vielleicht dahin gehen, dass man Einsamkeit nicht nur als etwas sieht, was "bekämpft" werden muss, so wichtig alle Maßnahmen auch sind. Denn Einsamkeit gehört zu unserem Sein. Dann geht es darum, das Einsamsein auch wieder einzuüben: mit sich selbst zu beschäftigen – mit seinen Bedarfen und Wünschen, mit seinen Gedanken.
Wie kann ich Momente der Einsamkeit für mich positiv nutzen?
Petra Müller: Momente der Einsamkeit, des Alleinseins, auch des selbstgewählten Rückzugs sind Möglichkeiten, zu sich zu finden, sich zu sammeln und ein wenig aufzuatmen. Viele finden das in der Natur. Jesus hat sich immer wieder an einen einsamen Ort zurückgezogen, um zu beten. Alleinsein ist, wenn man sich selbst genug ist; Einsamkeit, wenn einem etwas fehlt, wenn es eine Diskrepanz gibt zwischen den gewünschten und tatsächlichen Beziehungen. Wenn ich diese Erkenntnis zulasse und nach ersten, kleinen Schritten suche, um etwas zu verändern, habe ich den Moment der Einsamkeit positiv genutzt.
Welche unterschiedlichen Auswirkungen von Einsamkeit erleben Sie zwischen älteren und jüngeren Menschen?
Petra Müller: Nach neuesten Studien ist die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen am meisten von Einsamkeit betroffen. In dieser Lebenszeit sind viele Übergänge und Neuanfänge zu bewältigen: Ausbildung und Beruf, der Umzug an einen anderen Ort, der Aufbau von neuen Beziehungen und Freundschaften. Hat man sich in die Situation eingelebt, verschwinden die Gefühle von Einsamkeit oft auch wieder schnell. Anders verläuft es häufig bei älteren und alten Menschen. Durch den natürlicherweise kleiner werdenden Aktionsradius und Kontaktkreis werden Einsamkeitsgefühle oft chronisch, was auch gesundheitliche Auswirkungen hat.
- HH: Das Projekt „Mittel und Wege – Perspektiven 60+ in Osdorf“ bietet Prävention vor Einsamkeit und Armut im Alter
- SH: Der Verein KulturTafel Lübeck bietet kostenlose Kulturbesuche für Menschen, die sich tickets sonst nicht leisten können und vermitteln KulturTandems
- MV: Der Kinder-, Jugend- und Familientreff Parchim ist Anlaufstelle für Teilhabemöglichkeiten verschiedenster Art.
Das Interview ist erschienen in der Evangelischen Zeitung Nr. 32, 6. August 2023